Das (Un-)Heilige Land
Ich befinde mich in Israel, auf einer Reise von Norden nach Süden, von Nazareth bis Jerusalem. Ich befinde mich in dem Land, das 1948 durch eine Entscheidung der UNO zu Israel erklärt wurde, wodurch seitdem einer Region, die seit Menschengedenken bis heute von kriegerischen Auseinandersetzungen und Gewalt geprägt ist, ein weiterer Unruheherd eingepflanzt wurde, der mit dafür sorgt, dass das Wort Frieden lediglich Ausdruck einer Sehnsucht vieler Menschen hier ist.
Oder sollte ich besser sagen: Ich befinde mich auf einer Reise durch das „Heilige Land“. Auch diese Bezeichnung geht nur schwer über die Lippen, da das Un-Heil hier überall mit Händen zu greifen ist.
Welche Paradoxie der Geschichte, dass ausgerechnet von hier die größte Friedensbotschaft der Welt ausgeht, von einem Mann, der Gewaltfreiheit gepredigt und in aller Konsequenz gelebt hat und gerade deswegen einen gewaltsamen Tod sterben musste, dessen Grausamkeit kaum zu überbieten ist.
Unser Weg wird uns führen von Nazareth aus, über Galiläa nach Bethlehem und schließlich Jerusalem.
Galiläa, die Provinz im Norden
Und bereits hier im Norden des Landes, der noch relativ weit weg ist von den Unruhen der besetzten Gebiete und dem Hexenkessel Jerusalem, der eigentlich Hauptstadt sein sollte, wird, wenn auch eher subtil, die ganze Tragik der Region spürbar.
Denn auch hier wird genau darauf geachtet, mit wem man verkehrt, wo man Geschäfte tätigt oder zu Mittag isst: Juden, Moslems oder Christen.
Allerdings ist die offensichtliche Gewalt nicht weit: denn hier, im beschaulichen Norden, sind massive und offen ausgetragene kriegerische und terroristische Handlungen in der Nachbarschaft an der Tagesordnung. Hier befinden sich die Grenzen zu Libanon im Norden und Syrien im Osten.
Und doch gleicht das galiläische Bergland in diesen Maitagen mit seiner Blütenpracht und reichhaltigen Natur, mit dem lebensspendenden See Genesareth im Zentrum und der fruchtbaren und idyllischen Uferregion einem kleinen, beschaulichen Paradies.
Gleichzeitig wird an den meisten religiösen Stätten darauf hingewiesen, dass das Mitführen von Schusswaffen verboten ist.
Wie tief muss diese Form der Gewalt im Alltag einer Bevölkerung verankert sein, dass es notwendig wird, sie per Schild zu verbieten?
Die Hügel der großen Friedensbotschaft
Hier in dieser scheinbar ruhigen Idylle hat der Mann aus Nazareth sein öffentliches Wirken und Reden begonnen. Von hier, von den sanften Hügeln des bergigen Landstriches hat er der wohl überwiegend ärmeren Bevölkerung das Heil verheißen:
„Selig sind“, d.h. glücklich werden sein, „die für den Frieden sind“, „Freude finden werden die, die auf Gewalt verzichten.“ (Mt. 5,3 ff)
Hier von den Bergen herab schallt die Empfehlung, die andere Wange hinzuhalten, wenn Dich einer auf die rechte schlägt. Nicht als Zeichen der Unterwerfung oder des Klein-Beigebens, nein, sondern als Ausdruck von Souveränität und gewaltloser Selbstbehauptung.
Von hier aus nimmt ein unerhörter, weil, bis heute, revolutionär neuer Imperativ seinen Ausgang: „Liebet Eure Feinde! Tut Gutes denen, die Euch hassen!“
Hat ihn die relativ heile Welt der galiläischen Provinz dazu animiert? Die Sicherheit der räumlichen Entfernung vom bereits damals alles andere als friedlichen Zentrum Jerusalem, in dem die Römer auf der einen und die gesetzestreuen und streng auf die Einhaltung der Gesetzte achtenden Pharisäer und Sadduzäer auf der anderen Seite das Sagen hatten?
Würde er das durchhalten, auch wenn´s drauf ankommt? Wir werden sehen…
Durch besetztes Gebiet
Nach der Begegnung mit den Orten der Kindheit dieses Predigers, mit den Orten der großen Friedensutopie und –botschaft, geht unsere Reise weiter in den Süden. Nach Bethlehem und Jerusalem, der Stadt, die, zumindest nach Interpretation des Volksmundes, den Frieden in ihrem Namen trägt: Jeru-Salem, Jerushalom.
Ein bloßer Wunsch. Kaum irgendwo auf der Welt klaffen im Namen versteckter Anspruch und harte Wirklichkeit so weit auseinander wie hier, wo Abgrenzung, Rechthaberei, Wahrheitsanspruch, eine besondere Form von (religiösem?) Rassismus und Fanatismus und Hass mehr offen als versteckt an der Tagesordnung sind.
Auf dem Weg von Nord nach Süd passieren wir eine Grenze. Die Grenze nach? Ja, wie soll man es nun nennen?, Palästina?, Westjordanland?, Westbank?, Palästinensisches Autonomiegebiet?
Eine Grenze mitten durch ein Land, schneidend durch ein Volk, trennend, mit Passkontrollen, Stacheldraht, bewaffneter Bewachung, Menschenselektion (kommt mir das als Deutschem nicht irgendwie bekannt vor?). Ein eigentümliches Gefühl bemächtigt sich meiner, ein Gefühl des Unheimlichen, des Irrealen, etwas Bedrückendes.
Es handelt sich um ein Gebiet, das von Israel besetzt und kontrolliert wird, das eigentlich zu Jordanien gehört und Ende der 60er in einem 6 Tage dauernden Krieg kurzerhand zu neuem israelischem Besitz erklärt wurde. Hier leben Menschen in der 2., nein 3. Klasse: Palästinenser (Es ist noch nicht lage her, da klang dieses Wort in meinen Ohren nach „Terroristen“. Unsere vermutlich nicht ganz ausgewogene Medienberichterstattung macht´s wohl möglich. Wenn man die ganze Atmosphäre hier auf sich wirken lässt, steht wohl zu befürchten, für viele Israelis, die meisten (?), ist das immer noch so).
Die Kontrolle (besser: Unterdrückung?) durch den israelischen Staat macht sich in hoher Arbeitslosigkeit, einer Verschmutzung, die kaum hygienischen Minimalanforderungen gerecht wird, und in einer Perspektivlosigkeit v.a. der christlichen Minderheit bemerkbar, die dazu führt, dass diese scharenweise ihrer Heimat den Rücken kehren um vorwiegend in Südamerika eine lebenswerte Zukunft zu finden.
Inmitten dieser fast undefinierbaren Region immer wieder Panzerstellungen und Militäranlagen und fremdkörperartig anmutende, mit hohen Mauern und/oder Stacheldraht umzäunte und durch Wachtürme abgesicherte Inseln: israelische Siedlungen.
Mit ihnen dokumentiert Israel, dass es nicht gewillt ist, die Herrschaft über dieses Gebiet jemals wieder abzugeben. Mir stellt sich die Frage: Warum tun sich Menschen freiwillig das an: in einem Gefängnis innerhalb eines größeren Gefängnisses zu leben?
Eine Stadt hinter Mauern: Jerusalem
Auf der Weiterfahrt passieren wir am „Eingang“ zu Jerusalem erneut eine Grenze. Wir durchfahren die große De-Facto- und Contra-Jure-, auf jeden Fall Wunsch-Hauptsatdt Jerusalem (hier befinden sich der Sitz des Staatspräsidenten, das Parlament und das oberste Gericht), um auf der anderen Seite wiederum an Mauer, Stacheldraht, MP-bewehrten Grenzsoldaten und Wachtürmen vorbeizufahren auf dem Weg nach Bethlehem.
Diese Stadt, Jerusalem, ist ummauert wie einst Berlin, und die Mauer erinnert erschreckend an ihr sozialistisches Pendant.
Nur- sie ist noch 50 cm höher.
Die Krippe von Bethlehem
In Bethlehem, das wie gesagt in besetztem Gebiet liegt, ist unsere nächste Unterkunft: Das einem Waisenhaus (mit dem für dieses Stadt sinnigen Namen „creche“=Krippe) angeschlossene Gästehaus, mit dessen Hilfe die hier tätigen Schwestern den Unterhalt für das Waisenhaus verdienen.
Unterstützung für diese Arbeit von staatlicher Seite gibt es keinen Cent. Weder von israelischer, noch von palästinensischer. Allein die Einkünfte durch das Gästehaus und Spenden machen die Arbeit des Waisenhauses möglich.
Es ist die einzige Einrichtung dieser Art in dieser 30.000 Einwohner zählenden Stadt.
Das islamische Recht sieht uneheliche Kinder nicht vor, damit sind sie eben auch nicht existent. Und eine Notwendigkeit, sich um etwas zu kümmern, was es nicht gibt, besteht eben nicht.
Hinzu kommt, dass viele Neugeborene anonym abgegeben oder vor die Tür oder einfach so auf die Straße gelegt werden.
Diese Kinder haben keine Geburtsurkunde und sind damit Zeit ihres Lebens nahezu jeglicher Chance beraubt.
Im Waisenhaus erfahren sie noch so etwas wie Familie, Verbindung und Liebe. Dieses müssen sie mit 18 verlassen. Mir wird es eng ums Herz bei der Vorstellung, wie es dann für sie weitergeht: Ohne Familie, ohne Bindungen, ohne eigentliche Existenz. Es schreit in mir: „Das darf doch nicht sein!“
Nach dem Mauerbau, so erzählt uns die leitende Schwester, habe mit der Zunahme der Armut auch die Zahl der derart verlassenen Kinder zugenommen. Platz zu schaffen für immer neue Kinder ist eine große logistische Herausforderung. Adoptionen sind kaum möglich. Klar, wie soll ein Kind adoptiert werden können, das (auf dem Papier) gar nicht existiert?
Ein kleines Beispiel für die Widrigkeiten mit denen die Schwestern hier zu kämpfen haben: Die größten Wasservorräte in dieser trockenen Wüstenregion sind hier in Bethlehem, auf palästinensischer Seite. Diese werden von Israel nach Jerusalem abgeleitet und von dort kontrolliert und, nach israelischen Bedingungen reglementiert, den Palästinensern wieder „zur Verfügung gestellt“. Oder eben auch nicht.
Dem Waisenhaus wird für jedes Kind eine bestimmte Ration Wasser zugeteilt, was von vornherein schon knapp bemessen ist. Ohne Geburtsurkunde, d.h also ohne Existenznachweis, gibt´s allerdings kein Wasser.
Wir hatten das Waisenhaus selbst kurz zuvor besucht, haben in ausnahmslos strahlende Gesichter geblickt, von Kindern, bei deren Anblick nur Liebe zu empfinden möglich ist.
Um so größer spüren wir die Trauer bei den Erzählungen der Schwester.
(Wer sich näher über die Arbeit des Waisenhauses informieren oder auch spenden will, findet weitere Infos hier.)
In Deinen Toren werd ich stehen: Jerusalem
Am nächsten Tag steht Jerusalem auf dem Programm.
Wir nähern uns der Stadt zu Fuß von Osten, vom Ölberg her. Von hier hat man einen Blick auf das Zentrum der Stadt. Die heiligsten Stätten der drei großen Ein-Gott-Religionen liegen ausgebreitet vor uns: der Tempelberg, die heiligste Stätte der Juden, darauf die Al-Aksa Moschee der Moslems, daneben der mit seiner goldenen Kuppel alles überragende Felsendom und im Hintergrund Golgotha, der Ort der Kreuzigung und die Auferstehungskirche.
Mit diesem Blick auf die Stadt näherte sich ihr auch Jesus. Es wird berichtet, dass er bei dem Anblick weinte:
„Als er näher kam und die Stadt sah, weinte er über sie und sagte: Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest, was dir Frieden bringt. Jetzt aber bleibt er vor deinen Augen verborgen. Es wird eine Zeit für dich kommen, in der deine Feinde rings um dich einen Wall aufwerfen, dich einschließen und von allen Seiten bedrängen“ (Lk 19,41 f).
Beklemmend prophetische und gleichzeitig wahr gewordene Worte. Das Bild vom Wall ist sicht- und greifbare Realität, eine riesige Mauer umgibt die Stadt.
Ja, es ist zu Heulen im Angesicht der idyllischen Schönheit, die vor uns liegt und dem Wissen, dass gerade hier, am für Milliarden von Menschen heiligsten Ort der Welt die Abgrenzung und Verfeindung der Religionen immer wieder zu schwersten gewaltsamen Auseinandersetzungen führt.
Das Bedürfnis nach Sicherheit ist groß in dieser Stadt und im ganzen Land. Immer wieder sichtbar dokumentiert durch MP tragende Soldaten und Polizisten, die dem Namen „Heilige Stadt“ oder „himmlisches Jerusalem“ ein riesengroßes Fragezeichen verpassen.
Selbst an der bei uns als Klagemauer bekannten Westmauer des Tempelberges, dem, was von dem damals von Herodes erbauten Tempel nach der Zerstörung im Jahre 70 noch übrig ist, dem allerheiligsten Ort der Juden, stehen die Soldaten in voller Montur, die MP im Anschlag.
Manche beten an der Mauer, rechtshändig die Waffe, links die Thora, die jüdische Bibel.
Ein groteskes Bild, das in mir Gedanken von Unverständnis, Abscheu und Verurteilung weckt. Ich muss mich zwingen zu der Erkenntnis, dass es meine verurteilenden Gedanken sind, ich merke, wie schwer es mir fällt, Empathie aufzubringen für die Menschen hinter der Uniform. Ich brauch sie selbst im Moment.
Die Säuberungsaktion im Tempel: Gewalt oder gewaltfreier Widerstand?
Wie war das nun damals, in diesem „Hexenkessel“, für Jesus in der Ahnung der bevorstehenden Ereignisse bis hin zu Folterung und Tod? Würde er seine Predigt von der Gewaltfreiheit und Feindesliebe durchhalten können? Stunden und Tage der Bewährung.
Die Bibelstellen sind hier an vielen Stellen sehr widersprüchlich.
Nach der Trauer über den Zustand und die Zukunft der Stadt wird in 3 von 4 Evangelien (im Johannes-Evangelium an anderer Stelle) als nächstes die berühmte Tempelreinigung geschildert. Jesus muss wohl sehr aufgewühlt gewesen sein, so dass er seine ganze Wut in dieser Aktion zeigte. Aber war das gewaltfrei? Diese Stelle im Neuen Testament hat mich schon immer befremdet, weil sie meinem Empfinden nach so gar nicht zu dem passt, was Jesus in der Bergpredigt verkündet hat.
Wobei es durchaus nicht die Wut ist, mit der Jesus agiert, die mich ratlos macht, sondern die Tatsache, dass er diese Wut gewalttätig gegen andere Menschen eingesetzt haben könnte.
Die eigenen Gefühle, auch die Wut, zuzulassen und zu erleben ist eher Voraussetzung für gewaltfreies Handeln (auch gegen sich selbst). Gewalt bestünde darin, diese Wut gegen andere zu richten. Und hier bleibt die Stelle vage.
Aufschluss gibt ein Aufsatz von Egon Spiegel über diese Szene in „Theologie und Glaube“ 3/85 mit dem Titel: War Jesus gewalttätig?“ Zitat: „Doch genauso wenig wie Jesu Sabbatübertretungen (er hat gesetzeswidrig am Sabbat Menschen geheilt; Anm. d. Verf.) war die Demonstration gegen den Tempel eine Handlung durch die andere Menschen gedemütigt oder vergewaltigt worden wären.“ Weiter: „Jesu Tempelaktion war eine „revolutionäre, gewaltfreie Tat“, eingebettet in einen Versuch, in Liebe und Geduld mit der Kraft der Wahrheit das Gewissen des Volkes, der Händler und der Priester für ihr gottwidriges Treiben aufzuschließen.“
Wenn im Johannesevangelium davon gesprochen wird, dass er sich aus Stricken eine Geißel machte und sie alle aus dem Tempel vertrieb (Joh. 2,13ff), wird in vielen Übersetzungen und im griechischen Original deutlich auf wen sich dieses „alle“ bezieht. Es sind die Tiere, Schafe und Ochsen, die er aus dem Tempel vertrieb, was durchaus als Akt beschützender Macht gegenüber den Tieren gesehen werden kann, um sie vor dem Opfertod zu retten.
Gleichzeitig war es aber auch eine eindeutige Provokation der herrschenden Jerusalemer Priesterschicht, eine Stellungnahme gegen den damaligen jüdischen Opferkult und ein Zeichen gegen die Ausbeutung der ärmeren Bevölkerung durch die herrschende Schicht. Denn der Verkauf der Opfertiere, deren Erwerb nur mit dem lokalen Zahlungsmittel möglich war, der Geldwechsel zu überhöhten Kursen und das Verlangen von Tempelsteuer waren durchaus die gängigen Mittel von Ausbeutung und Unterdrückung. Dagegen wandte sich Jesus mit seiner Aktion, auch um den Armen ihre Würde zurückzugeben. Am deutlichsten wird dies bei Matthäus, wo an gleicher Stelle davon die Rede ist, dass im Tempel viele Lahme und Blinde zu ihm kamen und er sie heilte. (Mt. 21,12ff;).
Dass es kein Akt tätlicher Gewalt gegen Menschen war wird durch folgende Überlegungen deutlich:
- Wäre Jesus gewaltsam gegen die Händler vorgegangen, hätten die zahlreich vorhandenen Tempelwächter (sozusagen die Tempelpolizei) oder die Römer sofort eingegriffen und ihn festgenommen oder selbst aus dem Tempel verjagt. Darüber wird nichts berichtet.
- Auch Matthäus berichtet, wie alle anderen Evangelisten über diese Szene. Wäre sie im Widerspruch gewesen zu dem, was Jesus in der Bergpredigt gelehrt hat, (die ja am Eindrucksvollsten bei Matthäus protokolliert ist) hätte er diesen Widerspruch an dieser Stelle sicherlich thematisiert, oder er hätte die Episode einfach unter den Tisch fallen lassen.
Vielmehr ist das Handeln Jesu einzuordnen als gewaltfreier Widerstand, ähnlich wie bei Gandhi, als er in einer öffentlichen Aktion zusammen mit anderen seine Ausweispapiere verbrannte, oder der Afroamerikanerin Rosa Parks, die sich weigerte, ihren Sitzplatz in einem Bus für einen Weißen zu räumen, und beim darauf folgenden Busboykott von Montgomery, dem Anfang der Bürgerrechtsbewegung in den USA in den 50er und 60er Jahren.
Gewaltlose Selbstbehauptung unter Inkaufnahme von Gewalt gegen sich selbst, was sich ja bei Jesus auf grausamste Weise bewahrheiten sollte…
Unser letztes Abendmahl und das verbotene Lied
Die letzten Tage unserer Reise nach Jerusalem sind wir dort selbst untergebracht. 2 Tage in einem Hotel inmitten der Altstadt. Eigentlich wäre es einfacher, und als Unterstützung für das Waisenhaus in Bethlehem hilfreicher gewesen, auch die letzten 2 Nächte der Reise dort zu verbringen. Zu erwartende Schwierigkeiten am Flughafen bei der Ausreise, die der Tatsache erwachsen, dass wir bei Palästinensern übernachtet haben, lassen es vernünftig erscheinen, Jerusalem als letzte Logis zu wählen.
Es ist eine faszinierende Stadt, voller Düfte, Farben, ein Gewusel verschiedenartigster Menschen, ein Gewirr an Sprachen, Moscheen, Kirchen, Synagogen, Muezzinrufe und Kirchenglocken.
„In deinen Toren werd ich stehen, du freie Stadt Jerusalem“. Ach wenn es doch wahr würde.
Den letzten Abend, den „Bunten Abend“, feiern wir trotzdem im Restaurant einer christlich-palästinensischen Familie in Betlehem. Ein wunderschöner Abend, mit reichhaltigem orientalischem Essen, köstlichem Wein, mit Musik und Gesang. Wir lachen und erzählen und genießen die Gemeinschaft, die in den 10 Tagen gewachsen ist.
Offensichtlich wollen die Gastgeber etwas zum Gelingen des Festes beitragen, ihre Verbundenheit mit Deutschland zum Ausdruck bringen: Man spielt die deutsche Nationalhymne.
Irgendetwas an dem Text befremdet mich zuerst und schockiert mich dann: „Deutschland, Deutschland über alles…von der Maas bis an die Memel…“ Die komplette erste Strophe.
Das musikalisch-textliche Symbol der Grausamkeit des 3. Reiches ertönt hier, keine 5 km von Jerusalem entfernt und nur wenige von Yad Vashem, der Gedenkstätte für den Massenmord an den Juden. Erneut ist meine Empathiefähigkeit absolut überfordert. Es kann nicht sein, dass die Leute hier nicht ahnen, durch was dieses Lied belastet ist. Ist hier die Maxime: „Der (ehemalige) Feind meines Feindes ist mein Freund“? Ich fasse es nicht.
Das letzte Abendmahl
…Jesus feiert auch mit seinen Freunden. Der Wein fließt reichlich an diesem Abend, beim sogenannten letzten Abendmahl. Ganze drei Mal wird nach jüdischem Brauch beim Pessach-Fest der Becher gefüllt und geleert.
Und dann fordert er noch ein Viertes Mal dazu auf und vollzieht die Handlung, die noch heute täglich tausendfach in den christlichen Kirchen der Welt wiederholt wird. Und die gleichzeitig in ihrer verschiedenartigen Interpretation eines der, wenn nicht das, größte Hindernis für das Zusammenfinden der getrennten Kirchen ist. Man darf sich wohl ziemlich sicher sein, dass das so von ihm nicht gewollt war.
Todesangst, Einsamkeit, Gewaltfreiheit
Nach Beendigung der Feier nimmt er seine drei engsten Freunde mit und geht erneut zum Ölberg, dort wo er bereits Tage zuvor diese große Trauer gespürt hat.
Was er jetzt fühlt, ist Angst. Todesangst. Er weiß, was ihm bevorsteht. Sein Einsatz für Frieden, für die Armen und Entrechteten, die Ausgestoßenen, sein Verkünden der Wahrheit, von echter Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe bis hin zu Feindesliebe hat ihm die herrschende Klasse zum Feind gemacht. Zum Todfeind, der zur Beseitigung ansteht.
Jesus weiß, dass seine Verhaftung und sein Tod bevorstehen. Zu den Dreien sagt er: „Meine Seele ist zu Tode betrübt“ (Mt. 26,38).
Was Anderes mag das heißen als „ich bin verzweifelt, ich bin voller Angst, bis auf den tiefsten Grund meiner Seele, ich habe Todesangst“. Und er bittet sie, mit ihm zu wachen und zu beten.
Die drei verstehen ihn offensichtlich nicht. Sie schlafen. Die vier Becher Wein mögen ihren Anteil daran haben, dass ihre Fähigkeit zu empathischem Verstehen zur mitfühlenden Verbindung mit ihrem Freund, ebenfalls eingeschlafen zu sein scheint. Sie schlafen, während er, in Angst vergehend, um die Entscheidung ringt, seinen Weg zu Ende zu gehen.
Zu der Angst kommt somit eine riesengroße Einsamkeit. Von Gott und der Welt verlassen, seine dicksten Freunde verstehen ihn nicht, sie schlafen, während er ringt. Drei Mal wiederholt sich die Szene, dreimal findet er sie schlafend, dreimal Enttäuschung und Einsamkeit inmitten der Angst.
Dann hat er sich durchgerungen zu einer Entscheidung, dem Weg der Gewaltfreiheit treu zu bleiben.
Er hätte hier allen Grund gehabt zu schreien, zu toben, Ungerechtigkeit und Treulosigkeit zu beklagen. Er tut es nicht. Er hätte sich bewaffnen können, um sich gegen die Gefangennahme zu wehren. Er bleibt seiner Wahrheit treu.
Einer der Jünger greift zur Waffe in der größten Gefahr, um sich zu wehren und das drohende Unheil abzuwenden. Jesus sagt zu ihm: „Stecke Dein Schwert zurück, denn alle, die zu Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen“ (Mt. 26,52).
Er ist kein Opfer, er geht in Akzeptanz und Liebe, trotz aller Angst, seinen Weg.
Beim Verhör vor dem Hohepriester wird er ins Gesicht geschlagen, nachdem er um Erklärung des Vorgehens seiner Verhaftung bittet. Er schlägt nicht zurück (was in dieser Situation natürlich auch nicht unbedingt angebracht gewesen wäre). Aber bemerkenswert: er zeigt seine Würde auch in dieser Auseinandersetzung in gewaltloser Selbstbehauptung: „Wenn es nicht recht war, was ich gesagt habe, dann weise es nach. Wenn es aber recht war, warum schlägst Du mich?“ (Joh. 18,23) Das hat er wohl gemeint mit „linke Wange hinhalten“.
Im Gerichtssal des Pilatus verspotten sie ihn, spucken ihn an, setzten ihm einen Kranz aus Dornen auf den Kopf als Karikatur einer Krone. Er zeigt seine ganze Würde. In all seinem Schmerz und seinem Leid ist er sich seines Königtums bewusst.
Und schließlich am Kreuz, neben dem Ausruf tiefster Verzweiflung: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mt 27,46) die Bitte um Vergebung für seine Feinde, gelebte Vergebung im Angesicht es Todes: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34).
„Es ist vollbracht“
Meine Hoffnung für die Welt
Ich bin diesem Jesus unendlich dankbar, dass er uns diesen Weg der Gewaltfreiheit gezeigt hat und ihn konsequent gegangen ist. Ich verknüpfe damit die Hoffnung, dass es irgendwann allen Menschen auf der Welt, nicht nur in dieser so sehr von Unfrieden gequälten Region und nicht nur den Angehörigen der 3 Ein-Gott-Religionen, Juden, Moslems und Christen, möglich sein wird in Frieden zusammenzuleben. Als Brüder und Schwestern, weil alle Kinder des einen Vaters sind.
Wider allem Anschein, gerade hier, in diesem Teil der Welt, bin ich überzeugt: Frieden ist möglich. Weil es, wie den Mann aus Galiläa, immer wieder Menschen gegeben hat, die es gezeigt haben.
In diesem Sinne voller Hoffnung,
Peter
Auch der Friede im Großen fängt vor Ort an, im Kleinen, im Privaten. Hol Dir daher mein Gratis E-Book zur erfolgreichen Konfliktlösung:
Den Bericht finde ich als Reiseleiter dieser Gruppe ausgezeichnet. Wir waren ja bei Juden und Christen (Orthodoxe, Melkiten und Lateiner) untergebracht und haben bei Muslimen gespeist. Und wir haben dabei nur gute und geradezu freundschaftliche Erfahrungen gemacht. Wir haben es erlebt: Friede ist nicht nur möglich, auch in diesem Land der Tausend Konflikte seit Tausenden von Jahren. Er ist auch – leider nur partiell – Wirklichkeit. Gott sei Dank. Als Geschenk kann auch flächendeckend der Friede über die Menschen des Landes kommen, „den die Welt nicht geben kann“. Der aber will erbetet sein.
P. Rudolf Ammann
Vielen Dank, lieber Rudolf, für Deine ergänzenden Anmerkungen. Ja, es ist schon wahr, das, was wir erlebt haben, lässt auch hoffen und hält die Zuversicht hoch, dass Frieden möglich ist. Denn die Sehnsucht danach ist bei vielen Menschen, denen wir begegnet sind, zu spüren. Und bei dem Einzelnen fängt Frieden an.