Giftpfeile der Kommunikation: „Ich muss“

 

Beitragsbild zum Artikel "Ich muss"Ich muss und Du hast Pause

„Ich muss nur noch kurz die Welt retten…“

Mit dieser Aussage stellt Tim Bendzko in seinem gleichnamigen Lied den Adressaten oder die Adressatin (nehmen wir der Einfachheit halber an, es sei seine Partnerin) vor vollendete Tatsachen. Und macht ihr damit unmissverständlich klar: „Du hast jetzt erst mal Pause, Du hast zu warten, Du musst warten. Denn ich muss jetzt erst was anderes tun.“

Angesichts dieser Zwangslage, die in dem „ich muss“ zum Ausdruck kommt, bleibt der Freundin gar nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Das „ich muss“ lässt keine andere Wahl.
Die Situation ist alternativlos wie das schöne, moderne, alle Kreativität niederbügelnde Wort heutzutage lautet.

(Die Frage, ob die verharmlosende Formulierung „nur noch kurz“ der Angesprochenen eher Trost ist, oder, was ich für wahrscheinlicher halte, ihren Ärger und Frustration noch verstärkt, wäre sicherlich einen weiteren Artikel wert. Sie möge für jetzt jedoch Deiner Interpretation überlassen bleiben).

Dabei ist es relativ unerheblich, ob es um die schlichte Tatsache des Welt-Rettens geht (was ja durchaus ein motivierender Grund sein könnte, die Unbill des Wartens klaglos auf sich zu nehmen) oder um den unaufschiebbaren, in seiner Notwendigkeit nicht zu überbietenden Check von 148 Mails. Entscheidend ist das „Ich muss“. Punkt (Oder besser: Ausrufezeichen).
Wie könnte da jemand widersprechen?

Wir müssen (fast) nichts

Die nächste Frage, die sich mir allerdings stellt ist die: Wieso muss er das? Wer zwingt ihn dazu?  Hat er seinen Auftrag von oben bekommen? Zwingt ihn eine innere Stimme? Schließlich :

MUSS er denn wirklich???

Nehmen wir mal an, er muss nicht.

Es gibt allen Grund zu dieser Annahme, und ich glaube, dass es in unserem Leben nichts gibt, was wir müssen (mal von einem einzigen, unausweichlichen Ereignis abgesehen, das jeden Menschen am Ende dieses Lebens ereilt: dem Tod. Sterben muss jeder).

Ich bin mir des provokativen Charakters dieser Aussage durchaus bewusst, und ich werd später darauf eingehen, wie ich zu dieser Behauptung komme. Für jetzt nimm sie einfach mal als gegeben hin. Fragen wir uns also:

Wenn er nicht muss, was ist es dann, das ihn sagen lässt „Ich muss“ ?

„Ich muss“ bedeutet Zwang

Zwei Aspekte fallen mir dazu ein, und beide haben etwas mit Gewalt zu tun, d. h. mit der Tatsache, dass eine Handlung oder Aussage Freiheit einschränkt. Die Freiheit des Anderen oder die eigene.

Und deshalb zähle ich auch dieses „ich muss“ , zu den „Giftpfeilen der Kommunikation“, die unsere Kommunikation im wahrsten Wortsinne vergiften, und zwar,ähnlich wie ein „Aber„,  blitzschnell und meist im Anflug unbemerkt (weil gewohnheitsmäßig und unbewusst)

  1. Der Sprecher signalisiert seiner Zuhörerin: „Komm jetzt bitte nicht auf die Idee und beklag Dich darüber oder halte mich von meinem Vorhaben ab. Ich muss, das wirst Du ja verstehen, oder?“
    Dem Gesprächspartner wird keine Chance gelassen, seine eigenen Bedürfnisse zu äußern, denn angesichts des Müssens haben diese momentan keine ausreichende Berechtigung.
  2. „Ich muss“ heißt auch: Ich hab keine andere Wahl. Jemand oder etwas zwingt mich dazu, somit bin ich auch nicht verantwortlich für die Konsequenzen. Wenn die Adressatin, wie in dem Lied, mit dem Essen noch warten muss oder schon mal allein mit dem Essen anfangen soll, dann liegt das nicht in der Verantwortung von Herrn Bendzko, denn er muss grad was anderes tun.
zu glauben Du musst, macht Dich gleichzeitig zum Opfer und zum Täter Klick um zu Tweeten

„Ich muss“ sagt jemand, der nicht für das einstehen will, was er grad tun will, zu was er sich, warum auch immer, entschieden hat. Er vermeidet damit ein Einstehen für seine Bedürfnisse und eine Auseinandersetzung darum.

Hinter einem "Ich muss" lässt es sich gut verstecken

Hinter einem „Ich muss“ lässt es sich gut verstecken

Irgendwelche äußeren Mächte oder inneren Zwänge lassen jemandem, der sagt, „ich muss“ keine andere Wahl: „So sind die Regeln“, „So ist das Leben“, „So verlangt es das Gesetz“, „Befehl von oben“ und „Befehl ist Befehl“, „mein Gewissen zwingt mich dazu“, „es lässt mir sonst keine Ruhe“…

„Ich muss“ beinhaltet Gewalt und erleichtert Gewalt

Ein Problem dabei ist: Die Berufung auf diese Gegebenheiten erleichtert es ungemein, Handlungen vorzunehmen, die andere oder uns selbst schädigen. Im Dienste eben der höheren Sache, womit die Verantwortung ja nicht mehr bei dem „Müssenden“, dem Befehlsempfänger liegt.

Ein extremes Beispiel dafür sind die Verantwortlichen der Nazizeit.
Marshall Rosenberg hat dieses Beispiel aus dem Buch von Hanna Arendt „Eichmann in Jerusalem“ oft zitiert. Das Buch dokumentiert den Kriegsverbrecherprozess gegen Adolf Eichmann.

Hier wird deutlich, wie es möglich war, diese Verbrechen der Nazizeit zu begehen.
Als Eichmann gefragt wurde, ob es schwierig  war, Tausende von Menschen in den Tod zu schicken, antwortete er: „Um ehrlich zu sein, es war ganz einfach“.

Und die Erklärung dafür war die Sprache, die es ihm leicht gemacht hat, die er als Amtssprache bezeichnete. Eine Sprache, die auf Befehl und Gehorsam basiert und die es daher leicht machte, da sie den Eindruck vermittelt, für die eigenen Handlungen nicht verantwortlich zu sein.
Dazu ein Zitat aus dem oben verlinkten Wikipedia Artikel über das Buch von Arendt: „Der Gesetzgeber war Adolf Hitler mit seinem Führerwillen, Eichmann war nicht länger Herr über sich selbst, ändern konnte er nichts. Eichmanns Unfähigkeit, selbst zu denken, zeigte sich vor allem an der Verwendung klischeehafter Phrasen, einem Verstecken hinter der Amtssprache.“

Er musste es tun, in seinen Augen. Die innere Instanz, die ihn davon hätte abhalten können, hatte angesichts des Müssens zu schweigen…

Übernimm Verantwortung und streich „ich muss“

Steh zu Deiner Verantwortung, die Du ohnehin für Deine Taten immer hast, und streich „ich muss“ aus deinem Wortschatz.

Warum Du das tun solltest? Weil Du damit dem Anderen zeigst, was in Dir lebendig ist, dass Du zu Deinen Handlungen stehst und weil Du Dich damit als Mensch zeigst.

Und es gibt noch einen weiteren Grund, warum es für ein positives Lebensgefühl förderlich ist, auf „ich muss“ zu  verzichten.

Müssen macht das Leben schwer

DIe HAndschelle "ich muss"

Das Müssen legt uns Fesseln an

Was ist es z. B. für ein Gefühl, wenn Du jeden Morgen mit dem Gedanken aufwachst: „Ich muss zur Arbeit gehen“? Oder mit dem Gedanken bei der Arbeit weilst: „Ich muss noch so viele Dinge erledigen“. In dem Fall tust Du, nicht jemand anders, sondern Dir selbst Gewalt an. Denn Du vermittelst Dir selbst, Du seist zu etwas gezwungen, wobei Du Dich in Wahrheit eigentlich dafür entschieden hast.

Mach Dir bewusst: Alles, was Du tust, tust Du aus einem bestimmten Grund. Und diesen Grund hast Du, bewusst oder unbewusst, gewählt.

„Ich muss“ ist gelogen

Dies ist ein weiterer Gesichtspunkt, warum es sich bei der Aussage „ich muss“ im Eigentlichen um Gewalt handelt. Es entspricht nicht der Wahrheit. Oder platt ausgedrückt: Es ist gelogen.
Mit „ich muss“ belügst Du Deinen Gesprächspartner, oder, was zumindest nicht besser ist, Dich selbst.

Denn, Du musst nicht! Du tust es, weil Du Dich so entschieden hast, weil Du einen Grund hast.

Im ungünstigsten Fall gehst Du jeden Morgen zur Arbeit, um Deinen Lebensunterhalt zu sichern (in wohltuenderen Fällen noch zusätzlich, weil Dir die Arbeit Spaß macht oder weil Du darin Erfüllung findest).Wie auch immer, es gibt immer einen Grund. Und für diesen Grund tust Du etwas.

Und es ist für Dein Wohlbefinden von großem Vorteil, wenn Du Dir das in Deinen Worten auch so bewusst machst.

Ersetze also das „ich muss“ durch „ich will“ , oder „ich entscheide mich für…“. Denn so wird das Gefühl einer Dir von außen auferlegten Last wegfallen. Stattdessen werden größere Freiheit und Leichtigkeit in Dein Leben Einzug halten.

Nun wirst Du vielleicht einwenden: „Es gibt aber doch Dinge im Leben, die man einfach machen muss“.

Und nochmal: Nein! Außer dem Umstand des Sterbens gibt es nichts, was Du tun musst.

„Bedingtes Müssen“

Es mag viele Dinge geben, die Du tun musst, wenn Du etwas erreichen willst. Dieses „bedingte Müssen“, so will ich es einmal nennen, das gibt es wohl.
Allerdings: Du entscheidest Dich dafür, etwas zu erreichen oder zu vermeiden. Und erst dann musst Du oft etwas tun oder unterlassen. Es sind die Folgen deiner Handlung, nämlich das Erreichen oder Vermeiden dessen, was Du durch sie bewirkst oder bewirken willst. Für die entscheidest Du Dich. Um dieser Ziele willen musst Du oft etwas tun oder unterlassen.

Wenn Du ein guter Pianist werden willst, dann wirst Du kaum umhin kommen, stunden-, wochen-, jahrelang zu üben. Du musst üben, wenn Du es erreichen willst.

Wenn Du Deinen Arbeitsplatz nicht verlieren willst, wirst Du, zumindest hin und wieder, bei der Arbeit erscheinen müssen.

Du „musst“, weil Du ein Ziel hast, das möglicherweise nur durch diese Handlungsweise zu erreichen ist. Doch niemand kann Dich zwingen, ein guter Pianist zu werden, niemand kann Dich nötigen, Deinen Arbeitsplatz zu behalten. Du entscheidest Dich dafür.

Raus aus der Opferhaltung: „Ich will!“

Daher ist es ehrlicher, authentischer und weit motivierender zu sagen: „Ich will ein guter Pianist werden, daher übe ich so viel ich kann“. „Ich liebe meine Arbeit, zudem sichert sie meinen Lebensunterhalt, daher entscheide ich mich jetzt, zur Arbeit zu gehen“.

Wenn Du Dir und Deinen Mitmenschen also was Gutes tun willst, wenn Du größere Freiheit, Autonomie, Stärke spüren willst, wenn es Dir wichtig ist, ehrlich und vertrauenswürdig zu sein, und wenn Du raus willst aus Deinem Opferdasein, dann ersetze Dein „Ich muss“ durch

  • Vogel in Käfig und Vogel davor

    Käfig des „ich muss“ oder Freiheit des „ich will“. Du hast die Wahl

    ich will (, weil…)

  • ich entscheide mich für (, weil…)
  • ich mache (, weil…)

Ein persönliches Geheimnis

Zum Schluss will ich Dir noch ein kleines Geheimnis verraten (erzähl´s bitte nicht weiter):

Ich war 33 Jahre lang nicht beim Zahnarzt.

Ja, ich weiß, das könnte man durchaus verrückt nennen.
Zum einen verdanke ich das der Tatsache, dass mich die Natur mit überaus gesunden Zähnen ausgestattet hat, so dass zum Glück keine derartige Notwendigkeit bestand.
Zum anderen hielt mich immer wieder eine Sch€!§-Angst davon ab, die sicherlich von äußerst unangenehmen Erfahrungen aus der Kinder- und Jugendzeit herrührt.

Somit war ich bisher ein Meister des Verdrängens in Bezug auf dieses Thema.

Bis vor ca. 4 Wochen, als mich ziemlich heftige Zahnschmerzen heimsuchten. Der angstbesetzte, sich nahe an die Grenze zu Panik heranwagende Gedanke wurde immer konkreter: „Ich muss zum Zahnarzt“. Au Backe! (als aufmerksamer Leser entgeht Dir sicher nicht die Doppeldeutigkeit dieses Ausdrucks in diesem Zusammenhang 😉 )

Zum Glück kannte und kenne ich Techniken, wie ich diese Angst auf den Prüfstand stellen konnte und das Mangelgefühl verwandeln kann. Das war und ist mir tatsächlich eine große Hilfe.

Nächsten Mittwoch hab ich Zahnarzt-Termin.

Es wäre nun sicherlich nicht wenig übertrieben, behauptete ich, ich freue mich darauf. Doch sagen zu können, ich habe einen Termin beim Zahnarzt vereinbart, weil ich meine Zähne weiterhin gesund erhalten will, ist ein weit befreienderer Gedanke als zu sagen: „Ich muss am Mittwoch zum Zahnarzt“. Kannst Du das nachfühlen?

So, nun ist es raus…

Welche Erfahrungen hast Du mit dem Müssen? Welche Gedanken kommen Dir dazu? Nutze die Kommentar-Funktion und erzähl von Deinen Erfahrungen. Ich freue mich darauf, von Dir zu lesen.

Genieße Deine Freiheit,

Peter

 

 

 

 

2 Replies to “Giftpfeile der Kommunikation: „Ich muss“”

  1. Lieber Peter,
    vielen Dank für diesen treffenden Beitrag. Ich sehe das genauso wir müssen gar nichts. Wir haben immer die Wahl uns für etwas oder gegen etwas zu entscheiden, dann haben wir auch die Konsequenzen zu tragen.. Das versuche ich seit einiger Zeit aus meinem Wortschatz komplett zu verbannen. Ich sage es zwar automatisch noch öfter, merke es dann aber meist sofort und korrigiere mich mit „Ich will “ oder „Ich möchte “ … Auch in der Kommunikation mit den Kindern versuche ich das anzuwenden. Ist eine tolle Übung. Danke fürs Erinnern. Ich freue mich immer sehr über Deine wertvollen Beiträge, herzliche Grüße Marieluise von greens4kids

    1. Ja, liebe Marieluise, wie Recht Du hast. Ich freue mich immer zu sehen, dass bereits unsere Kinder in einer Atmosphäre der Freiheit aufwachsen dürfen und so schon Selbstverantwortung erleben. Danke für Deinen Rückmeldung und Wertschätzung. Schön, dass Du meine Beiträge mit Gewinn liest 🙂
      Liebe Grüße zurück, Peter

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